Journal der Gegenwart: Brief aus Cupertino (II)

Vor ein paar Tagen unterbrach mein Smartspeaker ungefragt die Musik und schleuderte mir einen Ratschlag entgegen: «Ich bleibe zu Hause. Und du, my friend, solltest dasselbe tun.» Die Aufforderung meines sogenannten intelligenten Lautsprechers ist nur ein Versuch von vielen, das Virus und seine Folgen mittels Technologie einzudämmen. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Hier im Silicon Valley läuft man gerade zur Topform auf.

Die ausserordentliche Situation, die die Pandemie hervorgerufen hat, ist wie geschaffen für Techies. Softwareentwickler können sich wieder tagelang mit Energydrinks vor dem Bildschirm isolieren. Unter Beschuss geratene Mantras wie Move fast and break things passen wieder. Und während die Techgiganten bis vor kurzem für vieles in der Kritik standen, bedanken sich Kunden und Regierungen nun bei ihnen. Apple und Google arbeiten gemeinsam am digitalen Contact-Tracing. Ein Instagram-Mitgründer programmierte ein virtuelles Kaufhaus, das Gutscheine für lokale Restaurants verkauft. Auf einer Plattform kann man Zeitfenster für Einkäufe im menschenleeren Quartierladen buchen. Und ein neu entwickelter Telefonroboter navigiert Arbeitslose durch die überlasteten Telefonlinien der Arbeitsämter.

Was gibt es sonst noch aus Cupertino zu berichten? Nun, im Zentrum des technologischen Fortschritts gibt es neuerdings ein Problem mit der Kanalisation. Weil manche Einwohner einen Lebensvorrat Toilettenpapier angelegt haben, greifen andere in der Not zu Haushaltspapier oder zerschnittenen T-Shirts. Mancherorts brodelt das Chaos bis auf die Strasse.

Ja, my friend, ich werde ganz bestimmt zu Hause bleiben.

Erschienen in Das Magazin, 25. April 2020

Journal der Gegenwart: Brief aus Cupertino (I)

Der Freitag ist mein Lieblingstag. Dann gibt es hier in Cupertino, Kalifornien, wo ich lebe, weniger Stau, und ich treffe draussen hin und wieder auch mal auf andere Menschen. Sie spazieren allein durch das Quartier und halten sich das Smartphone wie ein Knäckebrot vor den Mund, während sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen sprechen. Denn am Freitag arbeiten im Silicon Valley viele Leute von zu Hause und brauchen Auslauf. Das war schon vor der Pandemie so.

Seit dem Lockdown ist jeder Tag ein Freitag. Noch nie hat sich unser Quartier so lebendig angefühlt wie jetzt, da wir nur noch für das Nötigste aus dem Haus dürfen. Die Techies, deren Leben sich normalerweise auf dem Campus der Arbeitgeber abspielt, halten sich auf ihren Vorplätzen mit dem Springseil fit. Maskierte Spaziergängerinnen ziehen sich auf dem Trottoir die Pyjamahose hoch, Nachbarn laden Paletten mit Eiern aus dem Auto. Wenn ich im Garten sitze, höre ich auf der anderen Seite des Zauns Kinder spielen.

Dass die ganze Familie jetzt regelmässig an die frische Luft gehen soll, wird hier von höchster Instanz empfohlen. Mit Mut machenden Zeilen richten sich Tech-CEOs aus dem Heimbüro an die Belegschaft und ermahnen sie, gesund und bei guter Laune zu bleiben. Da beides zurzeit nicht einfach ist, hat man Massnahmen ergriffen: Wer will, erhält jetzt Unterstützung beim Kauf eines ergonomischen Bürostuhls. Angestellte profitieren von Online-Yoga, das helfen soll, trotz viraler News auf die Arbeit zu fokussieren. Und sofern keine sensiblen Themen besprochen werden, dürfen Kinder und Haustiere bei Telefonkonferenzen dabei sein.

Natürlich geht es hier nicht allen so gut. In der Nachbarstadt richtet die Nationalgarde Hotelzimmer und Kongresszentren für Obdachlose her. Und auch sonst wird immer deutlicher, wie ernst die Lage ist. Die Krankenzahlen in Kalifornien sind hoch, die Spitalbetten knapp, bei den Ansprachen aus dem Weissen Haus wird einem schlecht. Deshalb gibt es offen bar nicht wenige Leute, die in letzter Minute in ihr Heimatland flüchten. Etwa nach Taiwan. Sie hoffen, dass sie dort in der Krise besser aufgehoben sein werden als hier.

In Cupertino könnte es also still werden. Daran wurde ich bei meinem letzten Spaziergang erinnert. Auf der Strasse gab es niemanden, dem ich aus dem Weg gehen konnte, ich hörte nur die Vögel zwitschern und jemanden, der fürchterlich hustete.

Erschienen in Das Magazin, 11. April 2020

Wahrheiten aus dem sportlerleben: Doping-Probleme

Als es klingelte, lag ich noch im Bett. In Unterhose und T-Shirt rannte ich zur Tür und drückte den Knopf der Freisprechanlage. Dann hörte ich draussen im Treppenhaus jemanden sagen: «Hallo? Wir sind hier oben!»

Wir? Wer wagt einen Gruppenbesuch an einem Freitagmorgen kurz nach 6? Ich spähte durch das Guckloch. Und da sah ich sie stehen: Zwei Frauen, ein Mann, mit Seitentaschen über den Schultern und Formularen in der Hand.

Mir wurde beinahe schwarz vor den Augen. Nicht einmal zwei Stunden waren vergangen, seit ich selber durch diese Tür gegangen war. Mein Hirn bastelte undeutliche Bilder zusammen: Ich im Training. Später auf dem roten Teppich der Swiss Snowboard Awards. Ich mit einem Prosecco in der Hand und auf der Tanzfläche. Ich noch später auf dem Heimweg, platt wie ein Brötchen.

Dass nun, nur kurz nach diesen Ereignissen, Dopingkontrolleurinnen in meiner Wohnung standen, hatte ich mir selbst zu verdanken. Als WM-Medaillengewinnerin musste ich täglich ein Zeitfenster von 90 Minuten angeben, während dem man mich an einem bestimmten Ort für eine Urinprobe auffinden konnte. Und weil auch Sportlerinnen nicht immer im Detail wissen, wo sie wann sind, machte ich es so wie die meisten: Der Einfachheit halber bestellte ich die Inspekteurinnen frühmorgens zu mir nach Hause.

Als ich die «Whereabouts» so eingerichtet hatte, rechnete ich allerdings nicht mit den Schwierigkeiten, die an jenem Morgen eintraten. Ich musste feststellen, dass ich vor dem Zubettgehen zwar nicht zu wenig Flüssigkeit zu mir genommen hatte. Aber wohl die falsche: Bei diversen begleiteten Toilettengängen lernte ich, dass die harntreibende Wirkung von Prosecco kurzfristiger Natur ist. Es war eingetreten, was ich an diesem Morgen – dem einzigen im Jahr, an dem man mich zu Hause zur Dopingkontrolle bat – am wenigsten brauchen konnte: Die totale Dehydrierung.

Und so sass ich mit Kopfschmerzen am Küchentisch, vor mir ein grosser Krug Tee, gegenüber drei gesprächige Sportfans, die nebenberuflich für Antidoping Sportlerinnen kontrollieren. Drei! Eigentlich kam jeweils nur eine Person zum Überraschungsbesuch. Aber an diesem Tag waren zwei Lernende dabei, die nun auch auf ein Lebenszeichen meiner Blase warteten. Normalerweise, soviel wussten sie bereits, dauere die Abgabe der Probe nicht länger als eine halbe Stunde.

Wie lange es gehen kann, wenn es nicht normal läuft? Nur so viel: Es war beinahe Mittag, als ich völlig erschöpft und mit einem gluckernden Bauch zurück ins Bett kroch. Das Leben als Sportlerin kann unfassbar ermüdend sein!

(Publiziert in Nº1)

Waterfall

Wahrheiten aus dem Sportlerleben: Futtertrieb

 Sie nannten mich Anakonda. Kein Kompliment für eine junge Frau, die gerade versucht, ihren Körper für Olympische Spiele zu stählen. Das Tier ist im Querschnitt fast rund, sein Kopf ist auffallend klein, der Teint schimmert immer etwas grünlich.

Ich war erlöst, als Freund_innen mich aufklärten, der Spitzname sei nicht durch mein Äusseres bedingt. Vielmehr ginge es um ein auffälliges Verhalten an einem bestimmten Ort: dem Esstisch. Dort verbrachte ich als Sportlerin viel Zeit. Er war die Destination, die ich morgens nach dem Aufstehen auf direktem Weg ansteuerte. Und danach zwei bis fünf weitere Male aufsuchte: für Anakonda-Portionen Vollkornpasta, Hüttenkäse, Gemüse, Früchte, Proteinshakes, Schokolade.

Wer sich mit mir an den Tisch setzte, musste sich auf etwas gefasst machen. Es zeigte sich, was mit einem passiert, wenn man den Körper im Training täglich an die Grenzen bringt und Tausende Kalorien verbrennt: Kaum auf dem Tisch, erspähte ich die in Töpfen bereitgestellte Beute sekundenschnell und schnappte sie mir. Gnadenlos. Mein Teller war schwer beladen, die anderen mussten sich mit dem Rest begnügen. Das wurde vor allem dann schwierig, wenn Sportlerinnen und Sportler mit mir am Tisch sassen. Wir alle haben einen ausgeprägten Futtertrieb.

Dass dieser nicht der Norm entspricht, wurde mir hingegen bewusst, wenn ich mit Nicht-Sportlerinnen speiste. Während meine Freundinnen im Restaurant einen Salatteller bestellten, breitete der Kellner an meinem Platz einen Viergänger aus. Gewissensbisse musste ich keine haben: Ich betrachtete das Mahl als notwendige Karriereinvestition.

Während meiner Zeit als Sportlerin gab es keinen Moment, in dem ich nicht wusste, was ich als nächstes essen würde. Den Nahrungsmittelvorrat in meiner Küche hatte ich immer bis ins letzte Detail im Kopf, ich konnte jedes Joghurt aufzählen, das im Kühlschrank stand. Eine Heimkehr, ohne sicherzustellen, dass alles da ist für ein reichhaltiges Frühstück? Unvorstellbar.

Dabei konnte ich gar nichts für meine Gier. Ich war dazu erzogen worden: Sportlerinnen lernen früh, dass das Essen zum Training gehört wie Aufwärmen und Stretching. Trainer halten in Trainingsplänen fest, wann gegessen wird, manchmal ergänzen Ernährungsberaterinnen, wie viel Gramm Kohlenhydrate, Fette und Proteine auf den Teller kommen. Vor Olympischen Spielen wurden wir zu medizinischen Briefings zusammengetrommelt, wo man uns erklärte, dass die richtige Verpflegung im Olympischen Dorf über Sieg oder Niederlage entscheiden kann. Ich solle meinen Hunger sofort stillen, lernte ich. Noch besser: Es gar nicht soweit kommen lassen und präventiv essen. Denn Nahrungsmittelentzug begünstigt Infektionen, und wer krank ist, kann keine Spitzenleistung abliefern.

Diesen Tipp nehme ich mir heute noch zu Herzen. Auch nach der Sportkarriere brauche ich ein intaktes Immunsystem, deshalb überwinde ich mich regelmässig zu einem präventiven Schokoladengipfel. Ich will doch nicht, dass man mir beim Abendessen Ähnlichkeiten mit einer Riesenschlange unterstellt!

Smiling Banana by Roberta Fischli

Wahrheiten aus dem Sportlerleben: Selfie-Stress

Das Smartphone war mein wichtigster Gefährte während meiner Zeit als Sportlerin. Es war das Erste, das ich am Morgen sah. Schon während dem Frühstück belieferte es mich mit News, den ganzen Tag lang schaffte es zuverlässig Meldungen, Fotos, Musik herbei. Es war immer da, wenn ich niemanden zum Reden hatte. Und am Abend blinkte es mir noch einmal zu, bevor ich einschlief.

Aber jetzt einmal ehrlich: Es gab viele Episoden mit diesem Gerät, die alles andere als schön waren. Etwa diese: Ich stehe an einem Pistenrand in den Rocky Mountains, es sind Minus 20 Grad, meine tauben Finger umklammern den schwarzen Kasten. Schneekristalle perlen auf dem Bildschirm und auf der Haut. Ich zittere, das Telefon rutscht mir beinahe aus der Hand. Mühevoll halte ich es von mir weg, damit ich mich selber im Bildschirm sehe. Ich forme meinen Mund zu einem Lächeln, dann realisiere ich, dass die Masten der Bergbahn meinen Kopf umrahmen. Die Mundwinkel senken sich, ich muss mich anders positionieren. Ich drehe mich etwas, schaue wieder freundlich in die Kamera. Nun fährt mir hinten ein Skifahrer ums Ohr. Ich drehe mich wieder, so lange, bis hinter mir nur die Bergwelt zu sehen ist. Dann manövriere ich den steifen Finger auf den Auslöser. Klick! Ich schaue total entspannt in die Kamera.

Später sitze ich auf dem Sessellift und suche mit steifen Fingern das Bild aus, auf dem ich am besten aussehe. Ich wähle einen Filter, ändere ihn wieder. Tippe einen Satz ein, ändere ihn wieder. Ich markiere die Sponsoren. Als ich endlich auf «posten» tippe, sind meine Finger knallrot, und ich bin mit den Nerven fertig.

Wie ich mir in solchen Momenten die Zeit herbeisehnte, in denen es noch keine Mobiltelefone gab, kein Facebook, kein Instagram. Die Zeit, in denen Sportler_innen noch keine Social-Media-Manager sein mussten, sondern einfach ihrem Sport nachgehen konnten, ohne stets darüber zu berichten. Seit einigen Jahren sind die sozialen Medien neben Training und Wettkampf nämlich das Haupttätigkeitsfeld von Sportlerinnen und Sportlern, ob sie wollen oder nicht. Nicht nur die sportliche Leistung, sondern auch die Reichweite und die Eloquenz in den sozialen Medien entscheiden darüber, ob Firmen einen als Werbeträger wählen. In Sponsoringverträgen steht geschrieben, wann und wie die Werbepartner in Beiträgen zu erwähnen sind. Social-Media-Pläne, vorgegebene Hashtags, Kampagnen – das gehört heute zum Alltag.

Sportler_innen reisen nicht mehr alleine an einen Wettkampf oder in ein Trainingslager. Die Follower sind im Kopf immer dabei: Kommen Athletinnen an einem neuen Ort an, scannen sie diesen sofort auf mögliche Sujets, mit denen sie ihre Fans beliefern können. Das kann verheerende Ausmasse annehmen. Die Social-Media-Ambitionen der Sportler sollen einer der Gründe sein, weshalb Roger Federer jeweils nicht im olympischen Dorf wohnt. Athletinnen belagern ihn an den Spielen offenbar dermassen für Selfies, dass er es schlicht nicht aushält.

Natürlich sind die sozialen Netzwerke auch eine Chance, gerade für Sportler_innen, die weit vom Bekanntheitsgrad eines Federers entfernt sind. Facebook, Instagram und Twitter bieten ihnen eine Plattform, dank der sie sich eine Fangemeinde aufbauen können. Und auch Sportler, über die in den Medien berichtet wird, profitieren: Auf ihren Profilen können sie ihre eigene Sicht der Dinge darlegen und sich ein Image erschaffen, das unabhängig ist von der Berichterstattung durch Journalistinnen.

Apropos: Seit ich vom Spitzensport in die Medienbranche gewechselt habe, stelle ich fest, dass es sich dort ganz ähnlich verhält mit den sozialen Medien. Zwar habe ich keine Sponsoringverträge mehr, und Selfies sind etwas weniger gefragt. Aber wenn ich will, dass meine Beiträge gelesen werden, tue ich gut daran, sie in den sozialen Netzwerken zu teilen. Wie froh ich bin, dass ich jetzt nicht auf einem Sessellift sitze!

Selfie Ursina Haller