Journal der Gegenwart: Brief aus Cupertino (I)

Der Freitag ist mein Lieblingstag. Dann gibt es hier in Cupertino, Kalifornien, wo ich lebe, weniger Stau, und ich treffe draussen hin und wieder auch mal auf andere Menschen. Sie spazieren allein durch das Quartier und halten sich das Smartphone wie ein Knäckebrot vor den Mund, während sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen sprechen. Denn am Freitag arbeiten im Silicon Valley viele Leute von zu Hause und brauchen Auslauf. Das war schon vor der Pandemie so.

Seit dem Lockdown ist jeder Tag ein Freitag. Noch nie hat sich unser Quartier so lebendig angefühlt wie jetzt, da wir nur noch für das Nötigste aus dem Haus dürfen. Die Techies, deren Leben sich normalerweise auf dem Campus der Arbeitgeber abspielt, halten sich auf ihren Vorplätzen mit dem Springseil fit. Maskierte Spaziergängerinnen ziehen sich auf dem Trottoir die Pyjamahose hoch, Nachbarn laden Paletten mit Eiern aus dem Auto. Wenn ich im Garten sitze, höre ich auf der anderen Seite des Zauns Kinder spielen.

Dass die ganze Familie jetzt regelmässig an die frische Luft gehen soll, wird hier von höchster Instanz empfohlen. Mit Mut machenden Zeilen richten sich Tech-CEOs aus dem Heimbüro an die Belegschaft und ermahnen sie, gesund und bei guter Laune zu bleiben. Da beides zurzeit nicht einfach ist, hat man Massnahmen ergriffen: Wer will, erhält jetzt Unterstützung beim Kauf eines ergonomischen Bürostuhls. Angestellte profitieren von Online-Yoga, das helfen soll, trotz viraler News auf die Arbeit zu fokussieren. Und sofern keine sensiblen Themen besprochen werden, dürfen Kinder und Haustiere bei Telefonkonferenzen dabei sein.

Natürlich geht es hier nicht allen so gut. In der Nachbarstadt richtet die Nationalgarde Hotelzimmer und Kongresszentren für Obdachlose her. Und auch sonst wird immer deutlicher, wie ernst die Lage ist. Die Krankenzahlen in Kalifornien sind hoch, die Spitalbetten knapp, bei den Ansprachen aus dem Weissen Haus wird einem schlecht. Deshalb gibt es offen bar nicht wenige Leute, die in letzter Minute in ihr Heimatland flüchten. Etwa nach Taiwan. Sie hoffen, dass sie dort in der Krise besser aufgehoben sein werden als hier.

In Cupertino könnte es also still werden. Daran wurde ich bei meinem letzten Spaziergang erinnert. Auf der Strasse gab es niemanden, dem ich aus dem Weg gehen konnte, ich hörte nur die Vögel zwitschern und jemanden, der fürchterlich hustete.

Erschienen in Das Magazin, 11. April 2020