Journal der Gegenwart: Brief aus Cupertino (II)

Vor ein paar Tagen unterbrach mein Smartspeaker ungefragt die Musik und schleuderte mir einen Ratschlag entgegen: «Ich bleibe zu Hause. Und du, my friend, solltest dasselbe tun.» Die Aufforderung meines sogenannten intelligenten Lautsprechers ist nur ein Versuch von vielen, das Virus und seine Folgen mittels Technologie einzudämmen. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Hier im Silicon Valley läuft man gerade zur Topform auf.

Die ausserordentliche Situation, die die Pandemie hervorgerufen hat, ist wie geschaffen für Techies. Softwareentwickler können sich wieder tagelang mit Energydrinks vor dem Bildschirm isolieren. Unter Beschuss geratene Mantras wie Move fast and break things passen wieder. Und während die Techgiganten bis vor kurzem für vieles in der Kritik standen, bedanken sich Kunden und Regierungen nun bei ihnen. Apple und Google arbeiten gemeinsam am digitalen Contact-Tracing. Ein Instagram-Mitgründer programmierte ein virtuelles Kaufhaus, das Gutscheine für lokale Restaurants verkauft. Auf einer Plattform kann man Zeitfenster für Einkäufe im menschenleeren Quartierladen buchen. Und ein neu entwickelter Telefonroboter navigiert Arbeitslose durch die überlasteten Telefonlinien der Arbeitsämter.

Was gibt es sonst noch aus Cupertino zu berichten? Nun, im Zentrum des technologischen Fortschritts gibt es neuerdings ein Problem mit der Kanalisation. Weil manche Einwohner einen Lebensvorrat Toilettenpapier angelegt haben, greifen andere in der Not zu Haushaltspapier oder zerschnittenen T-Shirts. Mancherorts brodelt das Chaos bis auf die Strasse.

Ja, my friend, ich werde ganz bestimmt zu Hause bleiben.

Erschienen in Das Magazin, 25. April 2020