Sie nannten mich Anakonda. Kein Kompliment für eine junge Frau, die gerade versucht, ihren Körper für Olympische Spiele zu stählen. Das Tier ist im Querschnitt fast rund, sein Kopf ist auffallend klein, der Teint schimmert immer etwas grünlich.
Ich war erlöst, als Freund_innen mich aufklärten, der Spitzname sei nicht durch mein Äusseres bedingt. Vielmehr ginge es um ein auffälliges Verhalten an einem bestimmten Ort: dem Esstisch. Dort verbrachte ich als Sportlerin viel Zeit. Er war die Destination, die ich morgens nach dem Aufstehen auf direktem Weg ansteuerte. Und danach zwei bis fünf weitere Male aufsuchte: für Anakonda-Portionen Vollkornpasta, Hüttenkäse, Gemüse, Früchte, Proteinshakes, Schokolade.
Wer sich mit mir an den Tisch setzte, musste sich auf etwas gefasst machen. Es zeigte sich, was mit einem passiert, wenn man den Körper im Training täglich an die Grenzen bringt und Tausende Kalorien verbrennt: Kaum auf dem Tisch, erspähte ich die in Töpfen bereitgestellte Beute sekundenschnell und schnappte sie mir. Gnadenlos. Mein Teller war schwer beladen, die anderen mussten sich mit dem Rest begnügen. Das wurde vor allem dann schwierig, wenn Sportlerinnen und Sportler mit mir am Tisch sassen. Wir alle haben einen ausgeprägten Futtertrieb.
Dass dieser nicht der Norm entspricht, wurde mir hingegen bewusst, wenn ich mit Nicht-Sportlerinnen speiste. Während meine Freundinnen im Restaurant einen Salatteller bestellten, breitete der Kellner an meinem Platz einen Viergänger aus. Gewissensbisse musste ich keine haben: Ich betrachtete das Mahl als notwendige Karriereinvestition.
Während meiner Zeit als Sportlerin gab es keinen Moment, in dem ich nicht wusste, was ich als nächstes essen würde. Den Nahrungsmittelvorrat in meiner Küche hatte ich immer bis ins letzte Detail im Kopf, ich konnte jedes Joghurt aufzählen, das im Kühlschrank stand. Eine Heimkehr, ohne sicherzustellen, dass alles da ist für ein reichhaltiges Frühstück? Unvorstellbar.
Dabei konnte ich gar nichts für meine Gier. Ich war dazu erzogen worden: Sportlerinnen lernen früh, dass das Essen zum Training gehört wie Aufwärmen und Stretching. Trainer halten in Trainingsplänen fest, wann gegessen wird, manchmal ergänzen Ernährungsberaterinnen, wie viel Gramm Kohlenhydrate, Fette und Proteine auf den Teller kommen. Vor Olympischen Spielen wurden wir zu medizinischen Briefings zusammengetrommelt, wo man uns erklärte, dass die richtige Verpflegung im Olympischen Dorf über Sieg oder Niederlage entscheiden kann. Ich solle meinen Hunger sofort stillen, lernte ich. Noch besser: Es gar nicht soweit kommen lassen und präventiv essen. Denn Nahrungsmittelentzug begünstigt Infektionen, und wer krank ist, kann keine Spitzenleistung abliefern.
Diesen Tipp nehme ich mir heute noch zu Herzen. Auch nach der Sportkarriere brauche ich ein intaktes Immunsystem, deshalb überwinde ich mich regelmässig zu einem präventiven Schokoladengipfel. Ich will doch nicht, dass man mir beim Abendessen Ähnlichkeiten mit einer Riesenschlange unterstellt!