Wahrheiten aus dem Sportlerleben: Selfie-Stress

Das Smartphone war mein wichtigster Gefährte während meiner Zeit als Sportlerin. Es war das Erste, das ich am Morgen sah. Schon während dem Frühstück belieferte es mich mit News, den ganzen Tag lang schaffte es zuverlässig Meldungen, Fotos, Musik herbei. Es war immer da, wenn ich niemanden zum Reden hatte. Und am Abend blinkte es mir noch einmal zu, bevor ich einschlief.

Aber jetzt einmal ehrlich: Es gab viele Episoden mit diesem Gerät, die alles andere als schön waren. Etwa diese: Ich stehe an einem Pistenrand in den Rocky Mountains, es sind Minus 20 Grad, meine tauben Finger umklammern den schwarzen Kasten. Schneekristalle perlen auf dem Bildschirm und auf der Haut. Ich zittere, das Telefon rutscht mir beinahe aus der Hand. Mühevoll halte ich es von mir weg, damit ich mich selber im Bildschirm sehe. Ich forme meinen Mund zu einem Lächeln, dann realisiere ich, dass die Masten der Bergbahn meinen Kopf umrahmen. Die Mundwinkel senken sich, ich muss mich anders positionieren. Ich drehe mich etwas, schaue wieder freundlich in die Kamera. Nun fährt mir hinten ein Skifahrer ums Ohr. Ich drehe mich wieder, so lange, bis hinter mir nur die Bergwelt zu sehen ist. Dann manövriere ich den steifen Finger auf den Auslöser. Klick! Ich schaue total entspannt in die Kamera.

Später sitze ich auf dem Sessellift und suche mit steifen Fingern das Bild aus, auf dem ich am besten aussehe. Ich wähle einen Filter, ändere ihn wieder. Tippe einen Satz ein, ändere ihn wieder. Ich markiere die Sponsoren. Als ich endlich auf «posten» tippe, sind meine Finger knallrot, und ich bin mit den Nerven fertig.

Wie ich mir in solchen Momenten die Zeit herbeisehnte, in denen es noch keine Mobiltelefone gab, kein Facebook, kein Instagram. Die Zeit, in denen Sportler_innen noch keine Social-Media-Manager sein mussten, sondern einfach ihrem Sport nachgehen konnten, ohne stets darüber zu berichten. Seit einigen Jahren sind die sozialen Medien neben Training und Wettkampf nämlich das Haupttätigkeitsfeld von Sportlerinnen und Sportlern, ob sie wollen oder nicht. Nicht nur die sportliche Leistung, sondern auch die Reichweite und die Eloquenz in den sozialen Medien entscheiden darüber, ob Firmen einen als Werbeträger wählen. In Sponsoringverträgen steht geschrieben, wann und wie die Werbepartner in Beiträgen zu erwähnen sind. Social-Media-Pläne, vorgegebene Hashtags, Kampagnen – das gehört heute zum Alltag.

Sportler_innen reisen nicht mehr alleine an einen Wettkampf oder in ein Trainingslager. Die Follower sind im Kopf immer dabei: Kommen Athletinnen an einem neuen Ort an, scannen sie diesen sofort auf mögliche Sujets, mit denen sie ihre Fans beliefern können. Das kann verheerende Ausmasse annehmen. Die Social-Media-Ambitionen der Sportler sollen einer der Gründe sein, weshalb Roger Federer jeweils nicht im olympischen Dorf wohnt. Athletinnen belagern ihn an den Spielen offenbar dermassen für Selfies, dass er es schlicht nicht aushält.

Natürlich sind die sozialen Netzwerke auch eine Chance, gerade für Sportler_innen, die weit vom Bekanntheitsgrad eines Federers entfernt sind. Facebook, Instagram und Twitter bieten ihnen eine Plattform, dank der sie sich eine Fangemeinde aufbauen können. Und auch Sportler, über die in den Medien berichtet wird, profitieren: Auf ihren Profilen können sie ihre eigene Sicht der Dinge darlegen und sich ein Image erschaffen, das unabhängig ist von der Berichterstattung durch Journalistinnen.

Apropos: Seit ich vom Spitzensport in die Medienbranche gewechselt habe, stelle ich fest, dass es sich dort ganz ähnlich verhält mit den sozialen Medien. Zwar habe ich keine Sponsoringverträge mehr, und Selfies sind etwas weniger gefragt. Aber wenn ich will, dass meine Beiträge gelesen werden, tue ich gut daran, sie in den sozialen Netzwerken zu teilen. Wie froh ich bin, dass ich jetzt nicht auf einem Sessellift sitze!

Selfie Ursina Haller